Misstrauen in die Digitalisierung

Blogpost, 16.12.2022

Dass Bildschirme in unserem Alltag allgegenwärtig sind, steht außer Frage. Doch trotz der Möglichkeit, sich die genaue Bildschirmzeit für Smartphone, Computer und Co. anzeigen zu lassen, dürften die Zahlen der aktuellen Postbank Digitalstudie 2022 viele Menschen erschrecken.

Bei Betrachtung einer ganzen Woche sind die über 40-Jährigen rund 55,4 Stunden online, während es die unter 40-Jährigen, sogenannte „Digital Natives“, sogar auf 86,1 Stunden pro Woche bringen. Der Durchschnitt der deutschen Gesellschaft liegt demnach bei 65,2 Wochenstunden, wobei selbstverständlich viele auch digital arbeiten.

Das beliebteste der hierfür genutzten Geräte stellt jedoch das Smartphone dar. Mit 20,2 Wochenstunden im Falle der unter 40-Jährigen wird dieses zu einer Art Teilzeitjob und ist Woche für Woche präsenter als viele unserer Freunde und Familienmitglieder.

Dieser Trend, zunehmend Zeit digital zu verbringen steht jedoch im Widerspruch zu einem massiven Misstrauen gegenüber dem Digitalen. Die mittlerweile dritte Auflage der Werte- und Zukunftsstudie „Values & Visions 2030“ von GIM foresight (2023) verweist eindeutig darauf, dass Geborgenheit im Digitalen für die Bevölkerung nicht etwa eine Hoffnung oder Sehnsucht, sondern eine zunehmende Befürchtung darstellt. So werden Entwicklungen wie ein zunehmendes Bauen auf KI, Algorithmen und digitale Dienstleistungen zwar als wahrscheinlich, jedoch gleichzeitig als unerwünscht eingestuft.

Die daraus resultierende Fragestellung ist offensichtlich: Wieso hängen wir an unseren (Smartphone-)Bildschirmen, wenn es doch genau diese Entwicklung ins Digitale ist, die wir offensichtlich ablehnen?

Dopamin & Algorithmen

Zunächst ist es entscheidend zu verstehen, dass mit jedem neuen Beitrag in unserem Feed, jeder Nachricht oder jedem Like der Botenstoff Dopamin ausgeschüttet wird. Das Belohnungssystem wird angekurbelt und wir sind direkt ein wenig glücklicher. Jedenfalls für einen kurzen Moment. Für ein einfaches Wischen mit dem Finger ein Glücksgefühl zu erhalten, klingt nach einem guten Deal – doch der Schein trügt. Für das gleiche Glücksgefühl muss die Dosis, ähnlich wie bei anderen Suchtmitteln, kontinuierlich erhöht werden, sodass die Bildschirmzeit schnell ins Unermessliche steigt und die Frage aufwirft, wo der Tag schon wieder geblieben ist.

Bild: Inspa Makers on Unsplash

Dieser biologischen Abläufe sind sich nicht nur immer mehr Expert:innen sondern auch sämtliche App-Entwickler:innen bewusst. Der gezielte Einsatz von Algorithmen verschärft das Problem darüber hinaus immer mehr.

Algorithmen, sofern sie Einsatz im Digitalen finden, entscheiden vereinfacht gesagt automatisiert, was uns im Internet angezeigt wird. Sei es im Falle der Inhalte, die wir in den sozialen Medien sehen, der personalisierten Werbung oder bei Dating-Vorschlägen in Singlebörsen. Algorithmen stecken überall und steuern die Ergebnisse.

Basierend auf Big Data, sprich einer großen Sammlung an Daten und Informationen über unser Interesse und Nutzungsverhalten, erstellen Algorithmen so umfassende und detaillierte Profile unserer digitalen Person.

Die Effekte dessen lassen sich schnell erahnen und einmal im Teufelskreis gefangen, fällt der Ausbruch schwer:

Je mehr wir konsumieren, desto geschärfter wird unser Profil. Und je geschärfter das Profil ist, desto passender sind auch die Ergebnisse. Jeder Treffer bei Bildern und Videos führt zu einem kleinen Dopaminausstoß, den wir jetzt immer wieder wollen. Die logische Schlussfolgerung: Wir konsumieren noch mehr. Und je mehr wir konsumieren, desto geschärfter wird unser Profil…

Wie zuvor erwähnt, sind sich gerade jedoch die Entwickler:innen solcher Apps der fesselnden Wirkung ihrer Anwendungen bewusst. Das User-Interface, die geschalteten Inhalte und der geschriebene Algorithmus stellen ein mächtiges Trio dar.

Gerade TikTok hat dieses Zusammenspiel perfektioniert. Der gesamte Bildschirm wird von einem einzigen Video eingenommen und lässt schlicht keinen Raum für Ablenkungen. Inhalte werden durch die Nutzenden selbst generiert, sodass neben großen Stars auch viele Freunde auf der App vertreten sind. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit eigene Inhalte zu teilen, deren Likes und Kommentare ebenso einen Dopaminausstoß sowie eine gesteigerte Nutzungsdauer zur Folge haben.

Die sogenannte „ForYou-Page“ auf TikTok schaltet zudem ganz gezielt Inhalte, zugeschnitten auf die jeweiligen Nutzenden. So lernt der Algorithmus rasend schnell unsere Interessen und unseren Humor kennen und füttert uns mit maßgeschneiderten Inhalten.

Inhalte ohne Ende – Infinity Scroll

Oft reicht eine einzige Fingerbewegung, um ganz neue Inhalte angezeigt zu bekommen. Auf Tinder wird durch ein einfaches Wischen nach links oder rechts eine ganz neue Person angezeigt und bei Sozialen Medien wie TikTok oder Instagram reicht es von unten nach oben zu „swipen“.

Zwar mag die schlussendliche Bewegung bei den einzelnen Anwendungen unterschiedlich sein, sie alle eint jedoch die Endlosigkeit an Inhalten.

Dieses Feature wird bewusst verwendet und nennt sich „Infinity Scroll“. Entwickelt wurde der Infinity Scroll von Aza Raskin, ursprünglich um die Handhabung von Apps noch leichter zu gestalten.

Doch selbst der Schöpfer muss sich einige Jahre später in einem Tweet offen eingestehen, dass er durch den Infinity Scroll gelernt hat, dass die Optimierung der Nutzerfreundlichkeit nicht zwingend das Beste für die Nutzenden oder die Menschheit bedeutet.

Schließlich steigt die Nutzungsdauer nicht zuletzt aufgrund des Infinity Scrolls und der immer präziser werdenden Algorithmen bei einigen ins Unermessliche.

Die Sucht, die keine Sucht ist

Das vermeintlich Gute ist, wer Hilfe sucht, wird auch fündig. Artikel mit Tipps und Tricks gegen die „Smartphone-Sucht“ überschlagen sich und selbst Wikipedia hat einen eigenen Eintrag zur Handyabhängigkeit. 

Anders als man vielleicht erwarten würde, gibt es jedoch keine offizielle Smartphone-Sucht. Denn in der aktuellen Version des internationalen Klassifizierungssystems für Krankheiten (ICD-11) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind zwar diverse Suchtmittel und -verhalten gelistet, jedoch fehlt von dem Smartphone jede Spur.

Bild: Priscilla Du Preez on Unsplash

Dabei überschneiden sich die dort genannten Indizien von Süchten häufig mit dem Nutzungsverhalten des Smartphones. Ein starkes Verlangen nach der Substanz (in diesem Fall das Smartphone) oder auch ein im Hinblick auf die Dauer und Intensität unkontrollierter Konsum, der oftmals zu einem zurückgezogenen Sozialleben führt.

Bedenkt man, dass mit der Aktualisierung der ICD-10 auf die ICD-11 auch die Sucht nach Computerspielen aufgenommen wurde, scheint die Kategorisierung der Smartphone-Sucht als Krankheit nur eine Frage der Zeit zu sein.

Doch bis dahin bleibt die fehlende Listung der Sucht nach dem Smartphone folgenreich. Denn eine Nennung im ICD erleichtert unter anderem den Zugang zu Therapien sowie die Übernahme der Therapiekosten durch Krankenkassen.

Zwei Seiten einer Medaille

Obwohl der Einsatz von Algorithmen folgenreich sein kann, wie die zuvor genannten Symptome von Süchten zeigen, fällt eine abschließende Bewertung dennoch schwer. Denn Vorteil und Nachteil lauten hier gleich: Der Algorithmus kennt uns.

Teilweise, und dort wird wiederum die Gefahr gesehen, sogar besser als wir uns selbst. Es werden Daten gesammelt über die Familie, Freunde, aber auch Kaufinteressen, Hobbies oder den Humor. Wer sich auf digitalen, Algorithmus basierten Anwendungen bewegt, gibt sich somit gewollt oder ungewollt preis. Gerade der Datenverkauf oder die -weitergabe ermöglichen es Unternehmen uns gezielt zu adressieren oder personalisierte Werbung zu schalten.

Die Gegenseite sieht hierin jedoch den Vorteil. Für viele stellt zum Beispiel das Scrollen durch TikTok und Co. am Abend auf der Couch Entspannung dar. Kennt der Algorithmus erstmal unsere Interessen oder unseren Humor fällt die Entspannung also umso leichter. Ähnlich verhält es sich beim Einkaufen. Ist es nicht bequem und angenehm, wenn die für uns optimale Winterjacke unter den ersten zwei Ergebnisvorschlägen ist und nicht erst stundenlang gesucht werden muss?

Bild: Bruno Kelzer on Unsplash

Fazit

Schlussendlich verhält es sich bei allem gleich, die Dosis macht das Gift. Doch das Zusammenspiel von perfektionierten Algorithmen und daher immer höher frequentierten Dopaminausschüttungen sorgt dafür, dass wir die Dosis stets erhöhen müssen. Und darauf wird seitens der Entwickler:innen gezielt gesetzt, immerhin ist unsere ungeteilte Aufmerksamkeit für ihre Anwendungen das mit Abstand wertvollste und höchste Gut.

Die Antwort auf die eingangs entstandene Frage, wieso wir an unseren (Smartphone-)Bildschirmen hängen, wenn es doch genau diese Entwicklung ins Digitale ist, die wir offensichtlich ablehnen, erscheint nun beinahe simpel: Weil wir oft nicht anders können.

Wir sehnen uns nach nicht-digitalen Erfahrungen und Geborgenheit in der Natur, wir wollen Menschsein, sind uns jedoch der Sogwirkung von algorithmisch gesteuerten Anwendungen bewusst. Wie eine Befragung von GIM Mitmaker zeigt, will eine Vielzahl der Menschen diese Sogwirkung jedoch gezielt aufrechterhalten. So werden zum Beispiel einige auf YouTube angezeigte Videos nicht abgespielt, da sie drohen den Algorithmus durcheinanderzubringen und die Ergebnisse somit in Zukunft zu verzerren.

Unser täglich hoher Medienkonsum trotz der klaren Befürchtung einer noch weitaus digitaleren Zukunft ist somit kein Widerspruch, sondern vielmehr ein Eingeständnis der Machtlosigkeit gegenüber digitalen Inhalten.

Die hier angeführte Werte- und Zukunftsstudie „Values & Visions 2030“ erscheint vollständig im Jahr 2023 und erfährt damit ihr mittlerweile drittes Update. Fünf zentrale Insights, sowie die vollständige Wertelandkarte sind bereits jetzt auf GIM foresight einzusehen.

 

Photo 1 by Inspa Makers on Unsplash

Photo 2 by Priscilla Du Preez on Unsplash

Photo 3 by Bruno Kelzer on Unsplash