Schult uns die Schule noch richtig?
Blogpost, 05.05.2023
In Deutschland hat nahezu jede Person eine Meinung zum Schulsystem. Viele davon fallen wiederum kritisch oder sogar stark negativ aus. Denn bei genauerer Betrachtung weist das Schulsystem in Deutschland zahlreiche Mängel auf.
Einige davon wurden durch die aktuelle Version der PISA-Studie (Programme for International Student Assessment) aus 2018 nochmal verdeutlicht. Im dreijährlichen Turnus werden die Bereiche Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften von Schüler:innen aus aller Welt überprüft und verglichen. Im Jahr 2018 haben laut OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, durchführende Organisation der PISA-Studien) über 600.000 Schüler:innen aus insgesamt 79 Ländern und Regionen teilgenommen.
Zwar liegt Deutschland in allen drei geprüften Bereichen über dem OECD-Durchschnitt, und seit dem Jahr 2000 konnte gerade die Lesekompetenz der Schüler:innen verbessert werden, allerdings war der Wert nahezu unverändert im Vergleich zu 2009, wohingegen in den Bereichen der Mathematik und den Naturwissenschaften langfristig rückläufige Ergebnisse erkennbar wurden.
Dass sich der Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status der Eltern und den PISA-Ergebnissen seit 2009 verschlimmert hat und stärker ist als im OECD-Durchschnitt, dürfte vor allem eines verdeutlichen:
Das Schulsystem in Deutschland darf und muss kritischen Betrachtungen unterzogen werden. Den OECD-Durchschnitt zu übertrumpfen darf nicht den Maßstab unseres Bildungssystems darstellen. Denn die Kritikpunkte sind zu vielseitig, zu zentral, um sich ihrer nicht in der Tiefe anzunehmen.
Was wird kritisiert?
Diese Kritik bezieht sich auf kleine, schulabhängige Abläufe sowie große, systemische Strukturen. So wird beispielweise über einen späteren Schulbeginn diskutiert. Für viele Schüler:innen in Deutschland beginnt bereits vor, spätestens jedoch um Punkt 8:00 Uhr morgens die Schule.
Auch Arbeitnehmende beginnen ihren Tag selbstverständlich früh, doch die Studienlage zeigt deutliche Unterschiede der Schlafrhythmen Jugendlicher und Erwachsener auf. Die Konsequenz sind bundesweit übermüdete Jugendliche, die ihren 8-10 Stunden empfohlenen Schlaf tagtäglich vergebens hinterherrennen.
Darunter leiden, wie die Wissenschaft betont, nicht nur die Gesundheit der Jugendlichen, sondern auch die Noten. Der aktuelle wissenschaftliche Kenntnisstand widerspricht dem Schulbeginn um 8:00 Uhr. 9:00 Uhr, oder sogar 10:00 Uhr, wäre hier im wahrsten Sinne des Wortes deutlich zeitgemäßer.

Bild: Dogukan Sahin on Unsplash
Doch auch das, was im Unterricht gelehrt wird, unabhängig davon, ob dieser um 8:00 Uhr oder erst um 10:00 Uhr beginnt, wird stets kritisiert. „Die Schule bereitet die Jugendlichen nicht auf das echte Leben vor“, ist ein Satz, den jeder von bereits mindestens einmal in einer Diskussion gehört oder sogar selbst gesagt hat.
Und er ist nicht zwingend falsch. Ein Großteil der in der Schule gelernten Inhalte, seien es die Gedichtanalyse, Geometrie oder Badminton, werden die meisten Menschen niemals benötigen. Lerninhalte zu Mietverträgen, der Steuererklärung oder Krankenversicherungen sucht man hingegen vergeblich.
Und tatsächlich – rund 67% der Befragten einer Studie des Markt- und Meinungsforschungsinstituts YouGov aus dem Jahr 2019 sind der Überzeugung, dass die Schule nicht genug auf das Leben vorbereitet. In der Befragung werden stattdessen Pflichtfächer wie „Benehmen“ (56%), „Berufs- und Studienorientierung“ (49%), „Wirtschaft“ (48%), „Gesundheitskunde“ (47%) oder „Programmieren“ (41%) gefordert.
Doch die simple Bejahung dieses Satzes verkennt den unwiderlegbaren Mehrwert des bisherigen Schulunterrichtes. Denn in nahezu jedem Fach wird nicht nur das Wissen selbst gelehrt, sondern auch die damit verbundenen Kompetenzen werden an die Schüler:innen herangetragen, und das zu jedem Zeitpunkt des (Schul-)Tages.
Während die Einheit zum Volleyball Sportunterricht die motorischen Fähigkeiten ausbildet und fördert, lehrt die Gedichtanalyse beispielsweise Texte kritisch und zwischen den Zeilen zu lesen. In der großen Pause wird Tag für Tag das Verhalten in sozialen Gefügen getestet, und die Hausaufgaben fordern die (Selbst-)Disziplin heraus.

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Alternativen zum gängigen Unterricht
Auf die Frage, wie der Schulunterricht in Deutschland folglich aussehen könnte, lassen sich viele Antworten finden. Nicht grundlos erfreuen sich alternative Schulmodelle wie die Waldorf- oder Montessorischulen nach wie vor großer Beliebtheit bei vielen Eltern.
Pädagogische Leitsätze wie „Das Kind in Ehrfurcht aufnehmen, in Liebe erziehen und in Freiheit entlassen“ im Falle der Waldorfschulen oder „Hilf mir, es selbst zu tun“ im Falle der Montessorischulen zeigen auf, dass auch alternative Modelle mit ganz anderen Fokussen funktionieren können.
In Waldorfschulen wird in „Epochen“ unterrichtet, sodass sich die unterschiedlichen Fächer thematisch aneinander orientieren. Steht im Geschichtsunterricht das Mittelalter auf der Agenda, so behandelt der Deutschunterricht beispielsweise Textanalysen des Minnesangs, und im Unterrichtsfach Gartenbau wird beispielsweise Getreide angebaut.
Ähnlich sind auch Unterrichtseinheiten in Finnland aufgebaut, wo nach „Phänomenen“ unterrichtet wird. Finnland, das seit Jahren bei nahezu jeder Neuauflage der PISA-Studie Bestplatzierungen erzielt, ordnete ab dem Schuljahr 2016/17 eine Bildungsreform an, bei der „Phenomenon-Based Learning“, kurz PBL, in den Vordergrund rücken sollte.
Fächerübergreifend nehmen sich die Schüler:innen seitdem den großen, zeitgenössischen Themen an, sei es der „Klimawandel“, die „Europäische Union“ oder auch „100 Jahre finnische Unabhängigkeit“. Derart flexible Lehrmethoden erschweren jedoch den Prozess der Benotung, sodass die Idee des phänomenbasierten Lernens nicht automatisch auf die starren, notengebundenen Bildungssysteme Deutschlands übertragbar ist.
Auch die Vorteile des pädagogischen Konzepts der Montessorischule, bei welcher jedes einzelne Schulkind gemäß den individuellen Bedürfnissen und Anforderungen hin zur Selbstständigkeit geschult bzw. erzogen wird, lassen sich nur schwer auf einer Schule mit 2000 Schüler:innen integrieren.
Fest steht jedoch: Die Kompetenzen, die in solchen Schulmodellen gefördert werden, weichen zum Teil entscheidend von den Kompetenzen der gängigen, staatlichen Schulformen in Deutschland ab.
Die Existenz solcher Alternativen, deren Liste mit den beispielhaft angeführten Modellen der Waldorf- und Montessorischulen noch bei weitem nicht vollständig ist, ermöglicht es Schulkindern entdeckend, selbstständig und phänomenbasiert zu lernen.
Wenngleich die auf diese Weise erworbenen Basiskompetenzen nur einen kleineren Teil dessen, was Unterricht vermitteln soll, darstellen, werden diese dennoch oftmals tiefer verankert als in klassischen Schulsystemen. Gerade vor dem Hintergrund der immer flexibler und selbstorganisierter werdenden Arbeitswelt, die auf die Schüler:innen wartet, ist das Investment in solche Lernansätze möglicherweise also zukunftsorientierter als oftmals wahrgenommen.

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Doch welche Kompetenzen sind wichtig?
Schlussendlich existiert keine einheitliche Liste mit Kompetenzen, deren Erwerb im Laufe der Schule definitiv erfolgen sollte. Die stellenweisen rasanten Veränderungen der Welt haben jedoch zur Folge, dass der Erwerb gewisser Kompetenzen in den Fokus rückt.
Ein Beispiel für eine solche Veränderung ist die künstliche Intelligenz ChatGPT von OpenAI. Dieser ChatBot lernt aus Unterhaltungen, und kann, sofern die Eingabe entsprechend formuliert ist, so manche Hausaufgabe von Schüler:innen in Sekundenschnelle erledigen.
Dass Anwendungen wie ChatGPT die Dynamiken in einer Schule auf den Kopf stellen können, sodass bereits einige Lehrkräfte beginnen, das Konzept der Hausaufgaben komplett über Bord zu werfen, zeigt sich mittlerweile bundesweit.
Da es sich bei der KI jedoch nicht um einen „WissensBot“, sondern lediglich um einen ChatBot handelt, der in die fehlerfreien Formulierungen zum Teil auch Falschinformationen einspeist, ist eine Vermittlung des richtigen Umgangs mit einem derart mächtigen Tool für Schüler:innen entscheidend.
Wer den Mut besitzt, solche Anwendungen gezielt zu integrieren, statt sie zu verbieten oder zu verteufeln, kann durchaus davon profitieren. Ein bewusster Umgang mit Medien, dem Internet und Anwendungen wie ChatGPT kann demnach ein ungeheures Potenzial freisetzen. Fast ein Drittel der Befragten der bereits erwähnten YouGov-Studie schreibt somit dem Schulfach der Medienkunde (29%) eine hohe Relevanz zu.

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Mit Glück in die Zukunft
Das hier gezeichnete Bild der Schulen in Deutschland ist selbstverständlich zu einheitlich. Vereinzelt nehmen sich Schulen natürlich genau dieser Kritiken an, sodass immer wieder Schlagzeilen zu neu eingeführten Schulfächern auftauchen. An Braunschweiger Grundschulen wird in Zukunft beispielsweise das Schulfach „Glück“ auf dem Stundenplan zu finden sein wird, während sich im Saarland 21 Schulen an dem Pilotprojekt „FREI DAY“, einem Schultag der sich allein der Zukunft der Jugendlichen widmet, beteiligen.
Auch Konzepte wie das der sogenannten „Zukunftsbauer“, einem Institut, welches unter anderem gezielt für Schulen Lehrmaterial entwickelt hat, um das wichtige und oft vernachlässigte Thema der Zukunft in den Unterricht der Schüler:innen zu integrieren, finden deutschlandweit immer mehr Beachtung bei der Planung einer Unterrichtswoche.
Auch wenn die Fortschritte zum Teil marginal oder klein erscheinen mögen, so sind es doch Fortschritte. Die Schnelllebigkeit der heutigen Welt erfordert immer mehr eine gewisse Flexibilität des sonst so starren Schulsystems. Globale Durchbrüche wie der von ChatGPT werfen jedoch die Frage auf, ob die Schule samt ihrer schrittweisen Veränderungen bei der rasanten, exponentiellen Entwicklung der Welt überhaupt hinterherkommen kann, oder ob die Kompetenzen von gestern langsam ihren Weg in den Schulunterricht finden, während die Kompetenzen von übermorgen bereits vor der Klassenzimmertür stehen.
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